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Sonntag, 4. Mai 2014

Ich fühle mich wie neugeboren.

Was hat der Name dieses Posts zu bedeuten?

Ich fange immer öfter an, darüber nachzudenken, wie verändert ich sein werde, wenn ich wieder zurück in Deutschland bin. Ich fühle mich einfach so Amerikanisch in meinem Lebensstil, in der Art, wie ich denke, wie ich mich anziehe, wie ich mich fühle. Gleichzeitig fühle ich mich so... ja, weise. Ich denke, dieses Jahr hat mir so viel beigebracht, hat mir gezeigt, was ich kann, wer ich bin, wie groß und klein diese Welt ist und wie wir denken, wir sind den USA so ähnlich, doch wie wir es nicht sind.
Das Jahr fasziniert mich jeden Tag aufs Neue. Ich vergleiche mein Leben hier mit meinem "alten, normalen, wirklichen" Leben in Deutschland. In Deutschland habe ich ein großes Haus, einen großen Garten, Eltern, die mir bezahlen, was ich brauche, meine Klamotten waschen. Hier wohne ich in einem einstöckigen Haus in einer typischen amerikanischen Nachbarschaft, ich fahre nicht mit dem Fahrrad sondern mit dem gelben Schulbus zur Schule, ich manage meine eigenen Finanzen, bezahle mein eigenes Essen, Kleidung, Hygieneartikel und lebe sehr selbstständig. Natürlich habe ich meine amerikanischen Eltern, meine Gasteltern, doch trotzdem ist es anders als "echte" Eltern, die mich erziehen und nicht nur für mich verantwortlich sind. Man kann den Unterschied so schwer Beschreiben, wenn man versucht zu erklären, wo sich Gasteltern von richtigen Eltern unterscheiden, denn eigentlich sollte da kaum ein Unterschied sein. Das ist bei mir der Fall. Mindy und Paul haben für mich absolut Mutter- und Vaterstatus. Gute Gasteltern machen es einem schwer, zu begreifen, dass man doch irgendwie zwei Eltern hat und das haben meine Gasteltern geschafft.
Dazu habe ich hier Mira. Eine Schwester. In Deutschland habe ich einen Bruder, der zu Hause lebt, hier ist es eine Schwester. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, Mira nicht mehr jeden Tag zu sehen. All diese Sachen, wie abends aufs Badezimmer warten, weil die Dame eine Dusche nimmt oder Sachen im Fernsehen gucken, die nicht nur für Jungs sondern auch für Mädchen geeignet sind, oder Mädchenabende bei uns zu Hause, an denen Paul und ich eher weniger zu sagen haben, oder emotionell gegenüber Schwestern sensibler zu sein als zu Brüdern und all die kleinen Geheimnisse anwenden, die man über die Zeit gelernt hat, um mit dem Mädchen Konflikte zu vermeiden.
Wenn ich Bilder von mir sehe, die etwa ein Jahr alt sind, sehe ich eine ganz andere Person. Es ist nicht, dass ich mich extrem verändert habe, es ist, dass ich im Spiegel einen Jungen sehe, der ein Leben in den USA führt und es ist so schwer zu kompensieren, dass ich vor einem Jahr nur ein und nicht zwei Leben hatte und all das hier, meine Freunde, meine amerikanische Familie, meine Schule, mein Alltag, meine Stadt Wylie, das Leben in der Vorstadt der Weltmetropole Dallas, all das stand da in den Sternen und der Typ auf dem Bild, der irgendwie genauso aussieht, wie ich, hat absolut keine Ahnung, was vor ihm steht. Er weiß nicht, dass er sein nächstes Jahr in Texas verbringt, bald jeden Sonntag für drei Stunden zur Mormonen-Kirche geht, eine High School mit zweitausend Schülern besucht in einer Stadt zwanzig Minuten von Dallas entfernt. Der Typ auf dem Bild weiß nicht, dass er bald so wundervolle Menschen kennen lernt, Orte wie Las Vegas, Denver, Hawaii besucht. Natürlich hat man mir gesagt, "du wirst ein zweites Leben aufbauen", doch die Bedeutung dieser Worte konnte ich mir nicht ausmalen und genauso, wie ich es damals nicht fassen konnte, tatsächlich in die USA, dem Land, das Freiheit, Stolz, einzigartigen Lebensstil und irgendwie doch das Zentrum dieser Welt repräsentiert, gehen würde und da für zehn volle Monate leben werde, so kann ich mir jetzt nicht vorstellen zurück zu gehen.
Ihr müsst wissen, dass der Traum eines jeden Amerikaners ist, Europa zu sehen. Das Bild von Europa in Amerika ist ein Kontinent, der so faszinierend doch gleichzeitig verwirrend ist. Menschen hier fragen sich: Wie können so viele verschiedene Länder auf einem Fleck, der so groß ist, wie die USA selbst, existieren? Warum sind die Grenzen dort so klein und nicht, wie hier mit Maschendrahtzaun? Warum ist alles, was man beim Grenzübergang sieht, ein kleines Schild, das sagt "Willkommen in Polen" und nicht "ACHTUNG! HOCHSICHERHEITSGEBIET! GRENZZONE!"? Wie kann ein Land, wie der Vatikan so groß sein, wie ein Golfplatz und trotzdem ein eigenes Land sein? Warum sprechen sie hier spanisch, da schwedisch, dort italienisch und irgendwo da drüben plötzlich russisch und was ist überhaupt der Unterschied zwischen tschechisch und polnisch und vor allem: Wieso spricht der Typ aus Deutschland englisch?
Nach acht Monaten USA denke ich auch in anderen Dimensionen. Eine lange Fahrt ist hier sechs Stunden, wenn überhaupt. Als eine lange Fahrt in Deutschland dachte ich immer an Berlin. Anderthalb Stunden nördlich von meiner Stadt. Ein Katzensprung für Amerikaner. Von meinem zu Hause brauche ich mit dem Auto auch nur fünfundvierzig Minuten, um in einem anderen Land zu sein. Diese Sachen können sich Amerikaner nicht vorstellen. Man fährt sechs Stunden nach Westen und man ist gerade mal aus dem Bundesstaat Texas raus, in New Mexico. Die nächste Grenze von hier ist Oklahoma, anderthalb Stunden nördlich von Dallas. In der Zeit wäre ich fast in Prag, wenn ich von Dresden aus fahren würde. Das nächste Land ist Mexiko und etwa zehn bis zwölf Stunden entfernt.

Bald lebe ich in Deutschland, in Europa, wo alles so anders ist als hier. So klein, so vielfältig, so anders. Bald rede ich jeden Tag deutsch und bald sehe ich all diese Gesichter wieder. Die Gesichter die mein Leben darstellen. Diese Gesichter, die in mir entweder dieselbe oder eine andere Person sehen werden. Die Gesichter, die mir fehlen, obwohl sie die Person, die mein deutsches Ich in mir drin darstellt, ständig begleitet. All diese Gesichter, die so lang so weit weg schienen, doch irgendwie ständig mit mir sind, waren und immer werden. Wenn du mich kennst und das hier liest, glaub mir, ich habe auch an dich gedacht. Es gibt Momente in denen man ein Gesicht sieht, das einer anderen Person ähnlich sieht oder man auf Facebook einen Namen liest, den man so lange nicht gehört hat und man fängt an über diese Person nachzudenken. Und ich denke viel. Ich denke so enorm viele Dinge. Was ihr lest ist nur ein Bruchteil. Was ihr hier lest sind meine Gedanken zum Austauschjahr. Ich könnte dasselbe mit Musik tun, mit meiner Kindheit, mit einem Ort, einem Gefühl, meiner Familie, was auch immer. Auch mit Menschen geht das und das bedeutet auch Du.

Ich denke, was ich damit sagen will, ist, dass ich niemanden vergessen habe während meines Jahres in dieser anderen Welt. Ich hoffe einfach, dass mich auch so wenig Menschen wie möglich vergessen haben. Wer meinen Blog von Anfang an liest, weiß, dass das meine größte Angst war. Vergessen werden. Dann gibt's da noch diesen sonderbaren Post von mir, geschrieben in einer Zeit vor dem Austauschjahr, die sich anfühlte, als wäre ich bald wie ausradiert aus dieser Welt, fast wie tot. Nicht mehr da. Ich habe festgestellt, das ist verglichen zu meiner Situation im Moment nichts. Damals wusste ich, ich komme wieder, setze mein Leben fort, keep on going. Nun befinde ich mich am Ende meines zweiten Lebens und ich werde niemals dazu im Stande sein dieses weiter zu leben. Niemals. Ich kann Leute hier anrufen, besuchen und all das doch mein Leben hier ist so gut wie vorbei.

Und das ist die Antwort auf die Frage vom Anfang: Was hat der Name dieses Posts zu bedeuten.

Genau das. Ein neues Leben.

Mal wieder ein neues Leben unmittelbar vor mir.

Und eine Frage bleibt: Ist es mein neues Leben oder mein altes, das auf mich wartet? Nächsten Monat finde ich es heraus. In einem Monat und zehn Tagen finde ich es heraus.


Danke fürs Lesen,
Der Texaner


-Johann

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